Forschungsschwerpunkte:


Die slavischen Literaturen im Kontext der Pragmatisierungs- und Entpragmatisierungsproblematik.

Die Geschichte der slavischen Literaturen lie▀e sich ohne weiteres als Geschichte von Pragmatisierung und Entpragmatisierung schreiben. Die Problematik ist fⁿr die slavischen Literaturen so relevant, da▀ diese nicht nur als "Fallbeispiel", sondern geradezu als Paradigma des Pragmatisierungs- und Entpragmatisierungsprozesses betrachtet werden k÷nnen.
Die russische Gesellschaft des 19. Jahrhunderts kennt keine den westeuropΣischen Gesellschaften vergleichbare Ausdifferenzierung und Spezialisierung der Geistes- und Gesellschaftswissenschaften. Soziale, geschichtliche, psychologische, philosophische, religi÷se etc. Fragen und Probleme (und die damit verbundene IdentitΣtssuche Ru▀lands zwischen Ost und West) werden - auch aus Grⁿnden politischer Zensur und Kontrolle - hauptsΣchlich im Medium der Literatur diskutiert. Dies hat zu einer starken Inpflichtnahme der Literatur fⁿr au▀erliterarische Zielsetzungen gefⁿhrt, ihr zugleich aber auch eine au▀erordentliche - in westlichen LΣndern so nicht vorstellbare - ethisch-moralische und weltanschauliche AutoritΣt verliehen. Auch der Ruf der russischen Literatur im weltliterarischen Kontext beruht ja v.a. darauf, da▀ sie es wie keine andere verstanden hat, aus der Not heterogener Zweckbestimmungen eine Tugend zu machen und geniale Strategien einer Synthese von literarisch-Σsthetischen Kriterien und au▀erliterarischen Inhalten und Ansprⁿchen zu entwickeln. Dabei lΣ▀t sich z.T. nicht mehr von einer "Vereinnahmung" der Literatur durch die RealitΣt sprechen, bisweilen scheint sich der Proze▀ geradezu umzukehren: die Literatur gewinnt als einzig verlΣ▀liche Instanz in einer noch wenig entwickelten intellektuellen Infrastruktur eine kaum ⁿberschΣtzbare Macht ⁿber das Denken und damit ⁿber die Wirklichkeit. Literatur kann hier nicht mehr einfach nur als Objekt heteronomer Ansprⁿche betrachtet werden, sie ist selbst zutiefst in den Proze▀ der Konstituierung solcher Ansprⁿche verwickelt.
Vor diesem Hintergrund wird die Heftigkeit der Opposition verstΣndlich, die dem Konzept von Literatur als h÷chster gesellschaftlicher und moralischer AutoritΣt durch die Entstehung der formalistischen und strukturalistisch-semiotischen Schulen seit Beginn des 20. Jahrhunderts erwuchs. Die Impulse, die hier von Ru▀land, spΣter auch von anderen slavischen LΣndern (Tschechoslowakei, Polen) ausgegangen sind, haben eine der folgenreichsten Entpragmatisierungswellen im Bereich der Literaturtheorie und literaturwissenschaftlichen Methodik und darⁿber hinaus in den geisteswissenschaftlichen Disziplinen ⁿberhaupt ausgel÷st.
Das sozialistische Regime hat in Ru▀land und anderen slavischen LΣndern bekanntlich eine rigide, kⁿnstliche Repragmatisierung von Literatur erzwungen (Sozialistischer Realismus), die ihren Ausdruck u.a. in so merkwⁿrdigen PhΣnomenen wie der professionellen Ausbildung von Schriftstellern fand sowie in der Bⁿrokratisierung (Administrierung) und der an Interessen der Partei (KP) ausgerichteten zentralistischen Organisation des literarischen Lebens (SchriftstellerverbΣnde, staatlich organisiertes Kritik- und Verlagswesen). Erst durch den Zerfall des sog. Ostblocks ist die Debatte ⁿber eine Entpragmatisierung von Literatur wieder voll in Gang gekommen. In den Werken der sog. postmodernen Schriftsteller ist eine geradezu demonstrative Verweigerung gegenⁿber heteronomen Zielsetzungen bis hin zur bewu▀t inszenierten Sinnlosigkeit zu beobachten; andererseits ist nicht zu ⁿbersehen, da▀ die Literatur durch ihre Entlassung aus der gesellschaftlichen Verantwortung enorm an AutoritΣt und Ansehen eingebⁿ▀t hat und in eine tiefe Krise gestⁿrzt ist.
In den sⁿd- und westslavischen LΣndern ist der Proze▀ der Pragmatisierung von Literatur historisch gesehen durch den Zusammenfall von literarischer Entwicklung, Herausbildung bzw. Bewahrung/-Wiedergeburt der Nationalsprachen und nationaler IdentitΣtsfindung und - behauptung bedingt.
Ein besonders deutliches Beispiel der Pragmatisierung stellt die polnische Literatur dar, die wΣhrend der anderthalb Jahrhunderte der polnischen Teilungen (1773-1918) Medium der nationalen IdentitΣt war und einen national messianistischen Mythos schuf. Diese Rolle des nationalen Gewissens charakterisiert den Stellenwert der Literatur im geistigen und politischen Leben Polens. Selbst in Phasen vordergrⁿndiger Entpragmatisierung dieses Modells, z.B. im Symbolismus (Mloda Polska), hielt sich der nationale Mythos.
Die sⁿdslavischen Literaturen funktionierten unter der Einwirkung Herderscher und romantischer Vorstellungen von einem kollektiven Volksgeist als Medien der nationalen Bewu▀tseinsbildung unter Rⁿckbesinnung auf (teils vermeintliche) historische Traditionen oder durch die Schaffung nationaler Mythen ("nationale Wiedergeburt"): aus einer romantischen literarischen Bewegung (Illyrismus) ist die "jugoslawische Idee" hervorgegangen, die in unserer Gegenwart wieder zerfΣllt, wobei im literarischen Leben der Sⁿdslaven eigentlich keine spⁿrbare Entpragmatisierung stattgefunden hat, sondern innerhalb des pragmatischen Modells ein Paradigmenwechsel von nationaler Verbundenheit und Gemeinschaft ("Jugoslawentum") ⁿber sozialistische Parteinahme (Frⁿhphase der ─ra Tito), vorⁿbergehende starke Anlehnung an westliche literarische Muster (Existenzialismus, Surrealismus), Regionalisierung hin zu einer Renationalisierung (bei spⁿrbaren gegenlΣufigen postmodernistischen Bestrebungen) in der Gegenwart. Die katastrophale Entwicklung im ehemaligen Jugoslawien beweist indes, da▀ es unter bestimmten UmstΣnden nicht mehr m÷glich ist, Literatur aus ihrer pragmatischen Bindung zu entlassen. Ganz gleich, ob Schriftsteller sich hier zur politischen Stellungnahme oder zum Rⁿckzug entschlie▀en, sie fΣllen stets eine 'pragmatische' Entscheidung.
Im Kontext dieses in allen slavischen Literaturen hochkomplexen und ⁿber Jahrhunderte hindurch brisanten WechselverhΣltnisses von Pragmatisierung und Entpragmatisierung der Literatur wird der Forschungsschwerpunkt 'slavische Literaturen' zwei Themenfelder ins Zentrum rⁿcken: zum einen das PhΣnomen des Paradigmenwechsels innerhalb eines ⁿbergreifenden pragmatischen Modells, in Konzentration auf die Literatur und Literaturtheorie des 19. Jahrhunderts, der Jahrhundertwende und der frⁿhen Moderne, zum andern die Aufl÷sungserscheinungen des Sozialistischen Realismus.

Wichtige Forschungsliteratur

Eigene Vorarbeiten (Rolf-Dieter Kluge, Slavisches Seminar)

M÷gliche Dissertationsprojekte



ZurueckWeiter

© '96 Deutsches Seminar, UniversitΣt Tⁿbingen Letzte Änderung: 23.07.96